Kapitel 4 aus der Sicht Friedrichs

Zürich, Niederdorf, Mitte Oktober 1273


 „Herr Bertram, wohin gehen wir?“ Friedrich hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere. Er hatte sein Glück kaum fassen können, als Bertram ihn heute früh beim Schulherrn abgemeldet hatte, da er ihn für einen wichtigen Botengang benötige.

„Pergament aussuchen.“

Das hätte er sich ja denken können, schon wieder Schreibkram, wie langweilig. Aber alles war besser, als mit verkrampften Fingern im Skriptorium zu hocken. Es war ein schöner Herbstmorgen, der Frühnebel hatte sich verzogen und die Sonne besaß noch wärmende Kraft. Sie liefen an den Chorherrenhöfen vorbei über den Salzmarkt. Von der Brotlaube an der Niederen Brücke zog der köstliche Duft frischgebackenen Brots in Friedrichs Nase. Das Wasser lief Friedrich im Munde zusammen. Weißes Brot bekamen die Klosterzöglinge nur an Feiertagen, ansonsten mussten sie sich mit dem zwar nahrhaften aber faden Gersten- oder Haferbrei begnügen. Er verlangsamte seine Schritte in der Hoffnung, Bertram würde sich zu einem kleinen Abstecher zu der Brotbude verleiten lassen, doch der junge Mann schritt zügig vorwärts.

„Wo bleibst du denn? Wir müssen bis ins Niederdorf!“

„Ich komm ja schon.“ Friedrich sputete sich, um Bertram einzuholen. Je weiter sie flussabwärts liefen, desto bescheidener wurden die Häuser, schmale Holzbauten waren jetzt die Regel, ab und an war wenigstens das Untergeschoss gemauert. Gänse und Hühner liefen frei zwischen den Häusern herum und sogar ein paar Schweine wühlten im Unrat. Ein stechender Geruch waberte schwallartig von der Limmat her. Friedrich rümpfte die Nase. „Meine Herrn, hier stinkt‘s aber ganz schön.“

„Das kommt von den Gerbereien“, bemerkte Bertram, der stehengeblieben war und sich suchend umsah. „Hier muss es sein.“ Sie standen vor einem mittelgroßen Haus, über dessen gemauerten Sockel sich zwei hölzerne Geschosse erhoben. Neben dem geöffneten Portal hing ein Lunellarium, das halbmondförmige Schabeisen der Pergamenter. Sie traten durch das Tor und gelangen Rechterhand in einen großzügigen Ladenraum. Auf zahlreichen Holzböcken hingen Pergamenthäute in unterschiedlichen Größen und Farbschattierungen. Ein großer Holztisch stand in der Ecke, ein mit diversen Werkzeugen beschwerter Pergamentbogen wies darauf hin, dass hier vor kurzem noch jemand gearbeitet hatte.

Dieser jemand war offensichtlich gerade damit beschäftigt, heruntergefallenes Material vom Boden zu klauben, jedenfalls war unter dem Tisch ein strammer Hintern in einem braunen Leinenkleid zu sehen, der sich geschäftig hin und her bewegte.

Bertram räusperte sich. Die Gestalt unter dem Tisch fuhr erschrocken empor und knallte mit dem Kopf gegen die Platte. Friedrich verzog mitfühlend den Mund, das hatte bestimmt wehgetan. Eine junge Frau von vielleicht siebzehn Jahren tauchte unter dem Tisch hervor, die rotblonden Locken von einer leichten Haube gebändigt. Sie hielt sich den Kopf und kam langsam auf die Füße.

Friedrich starrte interessiert auf die wohlgerundete Schulter in dem verrutschten Halsausschnitt, bis ihn eine harte Kopfnuss aufschreckte. Er fing einen bösen Blick von Bertram auf, der sich gleich darauf an das Mädchen wandte.

„Verzeiht, wir wollten Euch nicht erschrecken.“

„Schon gut, nicht Eure Schuld.“ Das Mädchen zupfte sein Kleid zurecht und wischte sich die staubigen Hände an der Schürze ab. „Womit kann ich Euch behilflich sein?“

Bevor Bertram antworten konnte, öffnete sich die Hintertür und ein Mann mittleren Alters betrat den Laden. „Fides, mein Kind, ich vergaß dir zu sagen, dass heute jemand vom Grossmünster vorbeischaut um Pergament für ein größeres Projekt zu bestellen …“ Er unterbrach sich. „Ah, ich sehe, die Herrschaften sind schon da.“

„Guten Morgen, Meister Hermann. Mein Name ist Bertram, Magister Konrad schickt mich, um Pergamentproben zu holen. Und das ist Friedrich, ein neuer Schüler. Er soll hier ein bisschen Materialkunde lernen.“ Unter Bertrams festen Griff stolperte Friedrich nach vorne und machte eine linkische Verbeugung.

„So so, Pergamentproben. Ich nehme an, bei solch aufwändigen Vorarbeiten geht es nicht nur um Urkunden sondern um einen Codex? Was soll es denn werden? Ein Psalterium? Oder etwas größeres, eine Bibel oder gar ein Graduale?“

„Nein, diesmal soll es eine Sammlung weltlicher Roman werden, Tristan und Parzival, eventuell noch andere.“

Der Pergamenter hob überrascht die Augenbrauen. „Übernimmt das Grossmünsterskriptorium jetzt auch solche Aufträge?

Bertram zuckte nur mit den Schultern und der Meister ging nicht näher darauf ein. „Und an welche Größe hattet ihr gedacht – normales Folioformat?“

Friedrich verstand kein Wort und auch Bertram schaute etwas hilflos. Der Pergamenter lächelte und gab seiner Tochter ein Zeichen.

Fides nahm einen Bogen weiches helles Pergament von ungefähr 50 x 35 cm von einem der Holzböcke und reichte es Bertram. „Seht, das ist eine kleine Schafshaut, wenn wir die einmal zu einem Doppelblatt falten, haben wir ein schönes Folioformat, Platz genug für zwei oder drei Textspalten. Denn wenn Ihr zwei oder gar mehr Romane in einem Band unterbringen wollt, solltet Ihr ein mehrspaltiges Format wählen, sonst wird das Buch zu dick zum Binden.“

Bertram vermied ihren Blick und rieb das Pergament vorsichtig zwischen den Fingern. Dann wandte er sich an den Pergamenter. „Und was für eine Sorte Pergament schlagt Ihr vor? Schaf oder Kalb?“

„Das kommt auf die Ausstattung des Buches an. Soll es Miniaturen enthalten?“

„Nein, nur Fleuroneè-Initialen, höchstens ein paar Federzeichnungen.“

„Gut, dann können wir relativ dünne Pergamente gleicher Stärke nehmen, von Schaf oder Ziege. Bei farbigen Miniaturen hätte ich sonst das dickere und rauere Kalbspergament für die Bildseiten vorgeschlagen, besonders, wenn auch Blattgold aufgetragen werden soll.“

Friedrich folgte mit glasigen Augen den Ausführungen der beiden Männer. Kalbshäute, Ziegenhäute, wen interessiert‘s – es lief doch alles auf das gleiche hinaus – dass er wieder gebuckelt dasitzen und mühsam Buchstabe für Buchstabe niederschreiben musste. Das Gerede konnte ja noch ewig dauern. Hoffentlich waren sie wenigstens zur Mittagszeit wieder zurück im Kloster, er hatte jetzt schon wieder Hunger. Der Junge unterdrückte mühsam ein Gähnen und versuchte, nicht an seinen knurrenden Magen zu denken. Doch dieser ließ sich davon nicht beeindruckend und gab ein deutlich hörbares Grummeln von sich. Friedrich errötete, als er sah, dass Fides ihn belustigt anlächelte.

„Ich glaube, ich nehme dich mal mit in die Küche, solange die beiden Herren noch beschäftigt sind.“ 

Das ließ sich Friedrich nicht zweimal sagen. Nach einem entschuldigenden Blick zu Bertram, der ihn gar nicht wahrnahm, folgte er Fides durch die Hintertür über den Hof zu den Wirtschaftsräumen. Das Anwesen war größer, als es von der Gassenseite her ausgesehen hatte. 

In der Küche wies Fides dem Jungen einen Platz an einer geräumigen Holztafel zu, an der bereits ein vielleicht gleichaltriger Knabe saß und sich mit großem Appetit eine Schüssel Haferbrei mit Latwerge einverleibte. 

Am Herd stand eine korpulente dunkel gekleidete Frau und beaufsichtigte mehrere Töpfe, in denen eine bräunliche Masse brodelte. Ein köstlicher Duft nach Zimt und Fruchtmus lag in der Luft.

„Mutter, das ist Friedrich, ein Schüler der Propstei. Sein Lehrer verhandelt gerade mit Vater und ich habe ihm etwas zu essen versprochen.“

Die Frau nickte Friedrich nur kurz zu und rührte weiter in ihren Töpfen. Fides schöpfte eine großzügige Portion Haferbrei in einen Holznapf und stellte ihn vor Friedrich ab. Sie legte einen Holzlöffel dazu und schob ihm einen Steinguttopf hin. „Nimm dir nur reichlich Latwerge dazu, Mutter kocht das beste Pflaumenmus in ganz Zürich.“

„Es duftet jedenfalls himmlisch“, sagte Friedrich und langte ordentlich zu.

Fides stellte ihm noch einen Becher Milch hin. „Rudolf, möchtest du auch noch etwas trinken, bevor du wieder an die Arbeit gehst?“ Rudolf, der über seinem leeren Napf beinah eingenickt war, fuhr schuldbewusst in die Höhe und nickte verlegen. Er stürzte einen Becher Milch hinunter, murmelte einen Dank und lief in den Hof.

Friedrich sah ihm kauend hinterher. „Was arbeitet er denn?“

„Das ist unser Lehrbub“, antwortete Fides, während sie Rudolfs Geschirr einsammelte. „Er schabt gerade die Häute“.

Friedrich seufzte. „Das ist bestimmt genauso öde und anstrengend wie Schreiben“.

Fides lachte hellauf. „Na, ich könnte mir vorstellen, dass das Häute schaben doch um einiges schwerer von der Hand geht. Findest du Schreiben denn gar so schrecklich?“

Friedrich zog eine Jammermiene. „Und wie! Es dauert so lange, bis man endlich eine Seite geschrieben hat und wenn man dabei mit der Tinte gekleckert hat oder ein Wort vergessen dann muss man die ganze Seite nochmal schreiben!“

„Oh jemine, ist denn der Lehrer Bertram so streng? Er sieht doch ganz nett aus?“

„Ach, der Herr Bertram ist in Ordnung, abgesehen davon, dass er nicht verstehen kann, wenn jemand das Schreiben nicht mag – nein, streng ist der Magister Konrad, der die ganzen Lehrbücher für uns verfasst hat – jeder Schüler aus seiner Schule soll drei Schriften beherrschen, das muss man sich mal vorstellen! Neben der normalen noch eine schnelle kursive für Urkunden, damit man beim Protokollieren auch mitkommt und dann noch eine manus optima für besonders feierliche Bücher! 

„Ach du Armer! Gibt es denn gar nichts, was dir am Unterricht gefällt?“

Friedrich dachte nach. „Doch! Singen! Den Chorgesang mag ich, da macht es mir auch nichts aus, wenn ich früh aufstehen muss – und da vergesse ich auch nie den Text. Magister Konrad hat ein wunderbares Passionsspiel geschrieben, da darf ich an Ostern im Festgottesdienst mitsingen. Da freue ich mich schon drauf – und zwar nicht nur, weil es für die Teilnehmer eine extra Ration weißer Brötchen gibt!“

„Ein Passionsspiel an Ostern? Das klingt ja interessant. Singen denn da alle mit? Ich meine, auch eure Lehrer – der Magister und zum Beispiel der Herr Bertram?“

„Haha, Herr Bertram und singen!“ Friedrich quietschte vor Vergnügen. „Er liebt zwar die Musik aber kann keinen einzigen Ton halten. Der Kantor hat ihn sogar vom Chordienst freigestellt, er meinte, damit würde er dem Herrn einen größeren Gottesdienst erweisen.“

„Ach so, dann macht er also gar nicht mit bei diesem Osterspiel?“

„Doch doch, er ist einer von den Vorlesern. Magister Konrad hat sich nämlich gedacht, es wäre doch schön, wenn alle Leute verstehen würden, worum es in dem Spiel geht und nicht nur die Geistlichen und Gelehrten und deshalb gibt es zwischen den Gesängen auch Passagen auf Deutsch, in denen die lateinischen Gesänge übersetzt werden. Unser Propst fand das zuerst etwas gewöhnungsbedürftig aber jetzt ist er ganz angetan. Ich glaube, er freut sich darauf, den vornehmen Stiftsdamen eins auswischen zu können, weil jetzt bestimmt viel mehr Leute Ostern ins Grossmünster gehen statt zur Abtei.“

Die schneidende Stimme von Fides Mutter unterbrach die angeregte Unterhaltung. „Das sind mir die richtigen, die schenken sich doch gegenseitig nichts, die vornehmen Herren und Damen von Propstei und Abtei – dass sie sich nicht schämen, das heiligste Fest der Christenheit für ihre pompösen Selbstdarstellungen zu missbrauchen. Wir gehen Ostern jedenfalls zu den Barfüßern, wie sich das für gute Christenmenschen geziemt!“

Friedrich blickte erschrocken in ihr aufgebrachtes Gesicht. „Verzeihung, Meisterin, ich wollte nichts Unrechtes sagen. Vielen Dank für das Essen, es hat ganz hervorragend geschmeckt. Ich glaube, ich sollte dann mal wieder zu meinem Lehrer …“ Er rutschte unbehaglich auf der Bank hin und her.

„Ja, tu das. Und du, Fides, hast du nichts Besseres zu tun als hier untätig herumzulungern? Bring den Jungen ins Kantor zurück und dann hilf mir, die Latwerge abzufüllen.“ Grußlos kehrte sie an den Herd zurück, während die beiden jungen Leute die Küche verließen.

 

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